Sterne über Reaktor 4

Es waren die gruselig-unglaublichen Momente, wie Anatolijs Blick auf den Sternenhimmel über dem brennenden 4. Reaktor, die die Schülerinnen und Schüler des HAG in Lengerich innehalten ließen. Um das Feuer zwischen dem Reaktor 4 und 3 zu löschen, verirrten sich Anatolij und sein Partner auf den engen und dunklen Fluren des Atomkraftwerks Tschernobyl. Mitten in der Nacht wurden er und die anderen geweckt, um die zweite Katastrophe zu verhindern.

Die mittlerweile brennende elektrische Installation drohte das Feuer auf den Reaktor 3 zu übertragen. Es sollten nur fünf Minuten werden, um eine Überlebenschance zu haben. Es wurden mehr als zehn. Vollkommen erschöpft, der Strahlung ausgesetzt, erinnerte sich Anatolij, hatten er und sein Partner keine Kraft mehr, um sofort zurückzulaufen. Sie blieben kurz stehen und starrten in die Dunkelheit, bis sie ein Loch in der Wand bemerkten, durch das sie Sterne über dem brennenden Reaktor 4 sahen. Es sind die Momente, in denen man dem Grauen sehr nah war, tödlich nahe.

In drei Vorträgen für die Stufen 9 bis zur Oberstufe hat Anatolij, der die Tschernobylkatastrophe hautnah erlebt hat, der Zuhörerschaft des HAG am Montag, den 05.05.25 einen Einblick in seine Rolle als Aufräumarbeiter, als sogenannter „Liquidator“ vor Ort, verschaffen können. Es waren keine gemütlichen Vorträge, auch wenn Anatolij mit seiner warmherzigen Art die Aufmerksamkeit und Zuneigung der Schülerschaft schnell für sich gewinnen konnte. 

Durch das Engagement von Herrn Reinhard Jansing aus der Initiative „Den Kindern von Tschernobyl“ Ibbenbüren und den Einsatz des Stadtschulseelsorgers und Stadtjugendseelsorgers des Bistums Münster aus Ibbenbüren, Herrn Christoph Moormann, konnte der Zeuge der Tschernobylkatastrophe von 1986, Anatolij Gubarev, für Vorträge gewonnen werden. Ermöglicht wurden die Vorträge durch das schnelle Handeln der Schulleiterin des HAG, Frau Angelika Elsermann, die zusammen mit ihrem Stundenplanbüro die Vorträge mitten in der Abiturphase und trotz anstehender Klassenarbeiten in den schulischen Tagesablauf schnell einbauen konnten. Ein wichtiges Thema, das hat man am HAG gespürt. Auch deswegen, weil das Thema „Atomkraft“ und Rückkehr zur atomaren Energieerzeugung in letzter Zeit immer öfter politisch diskutiert wird. 

Es war ein wichtiger Beitrag zu einer wichtigen Diskussion. Und es geht um Fakten sowie um Wissen. Erst dann kann der Diskurs um den Ausstieg aus dem Ausstieg eine gewünschte Tiefe erreichen. So ist es eben in der Demokratie. Der Wunschweg aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit, die Kant so am Herzen lag, ist mühsam, manchmal ungemütlich, öfters lästig, aber immer wichtig. Und es beginnt mit dem Wissen, für das man sich öffnet, auch wenn man zur Zeit der Katastrophe, wie die Schülerschaft des HAG, noch gar nicht auf der Welt war. „Was haben Sie gefühlt, als Sie nach Tschernobyl transportiert wurden?“, wollte eine Schülerin der Stufe 10 wissen, nachdem sie erfahren hatte, dass Anatolij im Alter von 25 Jahren nur eine Stunde Zeit hatte, um der Aufforderung sich als Reservist zu stellen nachzukommen. Anatolij erzählte auf Russisch von der Ungewissheit in diesem Moment, aber auch von der Vorahnung, es könnte der Einsatz in Tschernobyl werden. Was das bedeutete, ahnte er schon, schließlich hat er in der Schule und an der Universität gut aufgepasst. Seine Familie hat erst nach anderthalb Wochen erfahren, dass er lebt und in Tschernobyl ist. Der Dolmetscherin Frau Emma Agnischock gelang es mühelos, die so sensiblen Erinnerungen den jungen Leuten des HAG zugänglich zu machen und sie persönlich anzusprechen und zu berühren. Viele Jugendliche des HAG sprechen außer Deutsch auch Russisch oder Ukrainisch und daher bot die Begegnung mit Anatolij die großartige Chance, Fragen auch in ihrer Muttersprache zu stellen. Es entstand eine beeindruckende Atmosphäre der (Völker-)Verbundenheit und der echten Betroffenheit.

„Ich wünsche euch“, so beendete er den Vortrag, „eine Welt ohne Katastrophen. Eine schöne Welt und Frieden!“ Es klang wie ein Wunsch, fühlte sich aber ein wenig an wie ein Aufruf. „Die Atomkraft ist verlockend, kein CO2-Ausstoß, braucht keine fossilen Brennstoffe. Es sind aber Fragen ungelöst, wie die Endlagerung. Und es bleibt immer ein Risiko. Und dieses Risiko ist real. Deswegen bin ich gegen die Atomkraft“, so Anatolij. Es ist eine Stimme, die man nicht überhören kann. Frieden ist nebenbei gesagt eben nicht nur ein Wort, sondern fordert Verständigung und Verantwortungsbewusstsein aller, aber auch besonders der künftigen Generationen.

 

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