„Schule der Endzeit“

Marodierende Schutzgelderpresser setzen die Schüler*innenvertretung des Hannah-Arendt-Gymnasiums Lengerich in Lienen unter Druck. Was wie die dramatische Schlagzeile eines bedrohlichen Szenarios in einer Großstadt-Schule klingt, beschreibt in Wirklichkeit ein Demokratie-Planspiel für die Schülerinnen und Schüler des Lengericher Gymnasiums.

Vom 17. bis 19. September 2024 wurde das Klassenzimmer der Schüler*innenvertretung des Hannah-Arendt-Gymnasiums auf den Zeltplatz des Hallenfreibads in Lienen verlegt. Schulsozialarbeiter Jörg Harde von der Medienkooperative Steinfurt e.V. lud die Schülerinnen und Schüler der sechsten bis 13. Klasse zu einem Planspiel zur Demokratieförderung ein. Harde hatte dafür Fördermittel durch das Kommunale Integrationszentrum und die AWO Unterbezirk Münsterland-Recklinghausen im Rahmen der Partnerschaft für Demokratie Kreis Steinfurt sowie des Bundesprogramms "Demokratie leben!" des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend akquiriert. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit dem bundesweit tätigen Verein Waldritter e.V. durchgeführt.

Die Ausgangslage in Lienen: „Wir schreiben das Jahr 2060. Die Welt ist durch Kriege zerstört und größtenteils unbewohnbar. Staaten existieren nicht mehr. Europa liegt in Trümmern. Die wenigen Überlebenden kämpfen um Wasser, Nahrung und Macht. Gibt es in dieser Welt noch Platz für Menschlichkeit?“

Rund 40 Teilnehmende stellten sich diesem Szenario im und um das Freibad in Lienen. Eine Gruppe bildete das Hauptdorf „Feuertal“ auf dem Zeltplatz. Ihre Aufgabe war es, eine Gesellschaftsform zu entwickeln: Wer hat das Sagen? Wie werden Entscheidungen getroffen und wie setzt man sie durch?

Bald darauf wurde Feuertal von „Raidern“ (Schutzgelderpresser*innen) heimgesucht. Diese forderten, dass die Dorfbewohner*innen bis zum Abend Wasser, Medikamente, einen Hammer, eine Taschenlampe und Batterien bereitstellen müssten. Sollten diese Forderungen nicht erfüllt werden, drohten die Raider mit Waffengewalt. In diesem Szenario war alles knapp, sodass ein Hammer schnell zu einer lebenswichtigen Ressource für das tägliche Überleben der Dorfbewohner*innen wurde.

Zwei weitere Gruppen, bestehend aus Schülerinnen und Schülern, starteten außerhalb des Bades. Die Nomaden (gespielt von ortskundigen Schülerinnen und Schülern aus Lienen) sowie die Bewohner und Bewohnerinnen eines verarmten Bergbaudorfes aus dem Norden traten im Laufe des Spiels mit dem Hauptdorf in Kontakt. Ihre unterschiedlichen Gesellschaftsformen und Wertvorstellungen machten es anfangs schwer, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen. Doch die verschiedenen Ressourcen und Fähigkeiten führten sie schließlich, vielleicht auch aus der Not heraus, zusammen. Am Ende gelang es den Teilnehmenden nicht nur, die Forderungen der Raider zu erfüllen, sondern sie auch dazu zu bewegen, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen.

„Eine spannende Erfahrung für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, an die sie sich noch viele Jahre erinnern werden“, attestierte Tilmann Fuchs, sonst bekannt als Sozialdezernent des Kreises Steinfurt, hier als Vertreter des Begleitausschusses der Partnerschaft für Demokratie. „Plan- und Geländespiele, wie wir sie aus der Jugendarbeit kennen, bereichern den Schulalltag und bleiben nachhaltig in den Köpfen“, fügte Fuchs hinzu.

Lienens Bürgermeister Arne Strietelmeier verfolgte die Auswertungsphase des Planspiels mit großem Interesse. „Neben der inhaltlichen Dimension beeindruckt mich besonders die schauspielerische Leistung der Schülerinnen und Schüler. Es handelt sich letztlich um ein mehrtägiges Improvisationstheater.“

Auch Schulleiterin Angelika Elsermann freute sich darüber, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Schulklassen sowie der Oberstufengruppen freiwillig der Einladung des Schulsozialarbeiters gefolgt waren und sich auf dieses spannende Experiment eingelassen hatten. Doch nicht nur die Teilnehmenden kamen freiwillig: Auch die aufsichtführenden Lehrkräfte unterstützten das Projekt teilweise in ihrer Freizeit – Tag und Nacht. Dafür gilt ihnen ein besonderer Dank.

David Brüll, Projektleiter der Waldritter e.V., genoss die Tage in Lienen mit seinem Team sehr. „Die Lage des Schwimmbades ist ideal für solche Szenarien. Hier können die Jugendlichen ihrer Fantasie freien Lauf lassen und das Live-Rollenspiel voll ausleben. Aber unser Team hat nicht nur die Landschaft und die gute Mitarbeit der Teilnehmendengenossen – morgens vor Projektbeginn ein paar Bahnen im Schwimmbad zu ziehen und abends noch ein Teammeeting in der Sauna, das hatten wir bisher bei keinem Projekt.“

Und was hat das Ganze nun gebracht?

Wie lebt es sich in einer Welt, in der ein Baseballschläger eine unüberwindbare Waffe darstellt und keine Polizei kommt, selbst wenn man ein Telefon hätte, mit dem man die 110 anrufen könnte? Die Schülervertreterinnen und -vertreter des HAG sind sich nach drei Tagen einig: Eine offene Gesellschaft, geschützt durch Menschenrechte, das Grundgesetz und viele weitere Mechanismen, ist eindeutig lebenswerter – auch wenn es hier und da noch Verbesserungsbedarf gibt.

Die nächste Aufgabe für die Teilnehmenden ist es, die Ergebnisse in die restliche Schulgemeinschaft zu tragen – nicht nur in den Klassen, sondern auch in Gesprächen mit Freunden, Familie und z.B. Mannschaftskameraden und -kameradinnen. Über Demokratie muss gesprochen werden.

Schulsozialarbeiter Harde ist bereits auf der Suche nach der nächsten Fördermöglichkeit, um auch im Jahr 2025 wieder ein besonderes Erlebnis für die Schulgemeinschaft des Hannah-Arendt-Gymnasiums zu ermöglichen.

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